Unterschätzte Buchkunst

Um eine eigenständige Buchkategorie „Kinetisches Buch“ zu begründen, ist es notwendig eine entsprechende Definition zu formulieren, die die vielen im Deutschen verwendeten Begriffe wie Spiel-, Klapp-, Zieh-, Stehauf-, Aufstell (bilder)-, Falt-, Karussell- , Panorama-, Steck-, Dreh(-bilder)-, Transformations-, Metamorphosen- und Tunnelbuch sowie dreidimensionales Buch und die aus dem Amerikanischen übernommene Bezeichnung "Pop-up“-Buch einschließt, aber auch nach außen zum reinen Spielzeug oder zum nur illustrierten Buch abgrenzt.

Objekte, die zwischen zwei oder mehr verschiedenen Kategorien stehen, haben es immer schwer sich als eigenständig durchzusetzen. Einerseits werden sie sowohl von der einen als auch von der anderen Seite vereinnahmt, andererseits gelten sie als zu vernachlässigende Randerscheinungen, die höchstens die entsprechende Kategorie bereichern und dabei ihre ganze Bandbreite aufzeigen. Das gilt auch für den hybriden Bereich der kinetischen Bücher, die zwischen Spiel und Buch, zwischen Sach- und Unterhaltungsbuch, zwischen Erwachsenen- und Kinderbuch und zwischen Spielerei und Kunstwerk stehen.

Auch für den international genutzten Begriff „animated book“ (libro animato, livre animé) steht keine adäquate Bezeichnung im Deutschen (Animiertes oder belebtes Buch) zur Verfügung und selbst der englische Ausdruck „Movable Book“ ist im Deutschen (bewegtes oder bewegliches Buch) zu weitläufig und sprachlich schleppend. Deswegen scheint sich der Anfang 1930 patentierte und griffige Ausdruck „Pop-up“- Buch (von engl. to pop up = auftauchen) als Oberbegriff auch im Deutschen immer mehr durchzusetzen, obwohl er nur den einen Aspekt, das Aufspringen einer Skulptur beim Aufschlagen der Seiten, betont. Auch die Nutzung des Kürzels „Pop“ wie bei  „Pop-Art“, und „Pop-Musik“ irritiert. Mit den neuartigen Begriffen wie „Pop-up-window“, „Pop-up-Shop“ und "Pop-up-Radweg“ werden vorübergehende, nur zeitweise genutzte Einrichtungen assoziiert, die auch den Akzent in die falsche Richtung setzen.  Im Hinblick auf die Haltbarkeit könnte sich dies auch auf die labile Konstruktion von kinetischen Büchern beziehen. Doch das wäre sehr schade.

Da die manuelle Bewegung kleiner Teile als konstituierendes Merkmal für diese Bücher zu sehen ist, ist der auch international akzeptable Begriff „Kinetisches Buch“ (von griechisch „kineín“ = in Bewegung setzen, bewegen) angemessen und kann auch leicht in andere Sprachen übernommen werden (kinetic book, livre cinétique, libro cinetico).

Definition und Begriffserklärung

Ein kinetisches Buch ist ein Buch, das neben Einband und Blättern bild- oder textrelevante Umrissteile, meistens aus leichter Pappe oder Papier, aber auch aus anderen Materialien, enthält, die mit den Seiten oder dem Buchdeckel verbunden sind und sich manuell bewegen lassen oder durch Ein- und Umrissschnitte und Faltungen beim Umblättern hervorspringen. Diese Bewegungen können durch Aufschlagen der Seiten und Klappen, aber auch durch das Ziehen und Schieben von Laschen und Drehen von Scheiben oder auch Einstecken in Schlitze erfolgen. Die in enger Abstimmung mit den Autoren und Illustratoren entstehenden mechanischen Einfügungen können auch in einzelnen Büchern kombiniert auftreten. Die Vorgänge sind reversibel, so dass wieder ein geschlossenes Buch entsteht. Bücher mit wechsel- oder zweiseitiger Bindung ( Leporellos, Altar-, Tunnelbücher, Faltblätter) sowie Bücher mit Einsteck- und Ankleidefiguren sind Sonderformen der kinetischen Bücher.