Historie

In diesem Beitrag wird die Entwicklung kinetischer Bücher über mehr als 7 Jahrhunderte nachgezeichnet.

Erste Drehscheiben vor 750 Jahren.

Der Beginn der Verwendung von beweglichen Teilen in Büchern – außer den Seiten – ist unbekannt. Man fand aber bereits Drehscheiben in über 750 Jahre alten handgeschriebenen Werken. So wurde in der „Chronica Majora“ (1256) des englischen Benediktinermönchs Matthew Paris (1200 -1259) eine Drehscheibe („volvelle“) gefunden. Der katalanische Mystiker und Philosoph Ramon Llull (1232 – 1316) benutzte in seiner „Ars Magna“ (1305) sieben über einander liegende Scheiben um die Verknüpfungen seiner Theorien zu verdeutlichen.

Ansicht aus Tractatus Da SphaeraAuch in einem Nachdruck von „Tractatus De Sphaera“ des schottischen Gelehrten Johannes Sacro de Busco (John of Holywood 1195- 1256), der um 1230 handschriftlich erschien und 1472 erstmals gedruckt wurde, sind mehrere Abbildungen mit beweglichem Zeiger oder Scheiben zur sphärischen Astronomie enthalten.


In dem Buch werden schon die Kugelgestalt der Erde und die Klimazonen diskutiert.

„Wahrsagebücher“ mit Zeiger

Martin Flach: Losbuch, 1845 - hier ein Faksimile von 1923Eher an ein Orakel- oder Glücksrad erinnert die Drehscheibe im „Losbuch“, einem scherzhaften Wahrsagebuch, des Baseler Druckers Martin Flach (um 1485). Dieses nicht sehr Ernst zu nehmende Buch zeigt einen Tierkopf mit herausragender Zunge, die auf einen der 52 im Kreis angeordneten Tiernamen zeigen kann, zu denen es auf den folgenden Seiten neben einer bildlichen Tierdarstellung jeweils einen Vers mit acht Reimen gibt. Die Texte enthalten spekulative Vorhersagen, moralische Ermahnungen und scherzhaft-ironische Bemerkungen (Nachwort:“Daß loßbuch von Vogelen ist gemacht Allein umb kürczweyl ist erdacht“). Das Buch soll eines der ältesten und umfangreichsten in Deutsch gereimten und gedruckten Losbücher sein, die um 1500 sehr beliebt waren. Die Abbildungen hier sind einer Faksimileausgabe von 1923 entnommen, die die Schweizerische Bibliophilen-Gesellschaft ihren Mitgliedern bei einer Jahrestagung anbot.


 Zum Video mit dem Losbuch ...

 Letzzte Darstellung des geozentristischen Weltbildes von Apian

Anfang des 16. Jahrhunderts verwandte der deutsche Naturwissenschaftler Petrus Apianus (Peter Apian, urspr. Peter Bienewitz, 1495 – 1552) in seinem Hauptwerk „Astronomicum Caesarum“(1540) ebenfalls bis zu fünffach übereinander gelagerte bewegliche Scheiben. Die Papierscheiben - hier aus der Faksimileausgabe von 1967 - dienten der Veranschaulichung und Berechnung von Sachverhalten zu seinen Fachgebieten Mathematik, Astronomie, Kosmologie,  Geographie und Medizin, die Apian in seiner Heimatstadt Ingolstadt an der Universität lehrte. U.a. wies Apian nach, dass der Schweif von Kometen immer in die der Sonne abgewandte Richtung zeigte.Kaiser Karl V. würdigte Apians WQerk mit 3000 Gulden und einem Grafentitel.

Dies umfangreiche Werk mit 59 beweglichen Scheiben auf 17 von 60 Seiten, das auch in Apians eigener Werkstatt hergestellt wurde, ist eine der letzten umfassenden Darstellungen des ptolemäischen, geozentrierten Weltbildes bevor drei Jahre später Nikolaus Kopernikus die Grundlagen des sonnenzentrierten Systems in seinem Hauptwerk „De revolutionibus orbium coelestium“ vorstellte. Die in Apians Vorlesungen stark vertretenen Medizinstudenten benötigten die Berechnung von astronomischen Daten später für mdizinische Eingriffe.

Engelbrechts Perspektivtheater

Eine besondere papierene Kunstform, die manche eher als Raumdarstellung ansehen, entwickelte der Augsburger Kunstverleger und Kupferstecher Martin Engelbrecht (1684 -1756) mit seinem zehn Jahre älteren Bruder Christian. Diese häufig als "Perspectivische Vorstellungen" (lat.: perspicere = hindurchsehen) betitelten  oder als "Tunnelbücher" bezeichneten Dioramen werden aus 6 - 8  auf einem Blatt gedruckten ud handkolorierten Stichen zusammengestellt, die vor dem Ausschneiden auf Pappen aufgeklebt wurden. Die ausgeschnittenen Stiche  wurden in drei Formaten hergestellt: 16 x 21 cm; 9 x 14,5 cm; 7,5 x 9 cm, die in entsprechende Holzkästen in geringen Abstand hintereinander eingesetzt wurden. Ein Durchblick von vorne, auch durch eine Vorsatzlinse oder bei vertikaler Anordnung über einen Spiegel,gibt der abgestuftren Szene eine tiefe räumliche Wirkung. Diese Minitheater mit kleinen figürlichen Darstellungen gelten als Vorstufenvon kinetischen Bücher wie auch der einhundert Jahre später sehr populären Papiertheater.

Die Gebrüder Engelbrecht, die insgesamt über 1000 Stiche von Stadtansichten, Landschaften, Porträts und Uniformierten herstellten, fertigten um 1750 geschätzt etwa 350 Perspektivtheater an, die historische Ereignisse, biblische Szenen oder auch nur Alltagssituationen darstellten. Theman wie die Jahreszeiten erschienen in allen drei Formaten.  Proszenien und Hintergründe wurden oft vertauscht. Häufig gingen die Titel verloren, da sie auf dem ausgeschnittenen Innenraum der Stiche standen. Um sich vor Raubkopien zu schützen, ließ sich Martin Engelbrecht 1719 seine Entwicklung vom Augsburger Stadtrat für 10 Jahre mit zweimaliger Verlämngerung patentieren.


Die „Tunnelbücher“, auch „Guckkastentheater“ und im Englischen als „Peepshowbooks“ bezeichneten Kreationen anderer Produzenten wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in größerem Format als Jahrmarktattraktionen gezeigt. Sie werden aus einer gestaffelten Sequenz von durch Bänder oder Papierstreifen verbundenen Bildausschnitten gebildet und in einem Holzkasten gegen ein Entgelt zur Durchsicht freigegeben. Oft konnten sie nur durch ein oder zwei runde Löcher in der Vorderfront betrachtet werden.


Metamorphosen ab 1750

Vor rund 250 Jahren brachte der englische Verleger Robert Sayer (1725 – 1794) Metamorphosis-Hefte heraus, die sich  bei Erwachsenen  äußerster Beliebtheit erfreuten, sich aber auch schon an Kinder richteten. Es waren Heftchen im Leporello-Format, die auch als "Turn-ups" bezeichnet wurden und kurze moralische Texte mit  schelmischen Bildern enthielten. Durch ergänzende Klappen nach oben und unten – die oben liegenden Bilder wurden in der Mitte horizontal geteilt – wurden Situationen mit einem Harlekin, wie er in der italienischen Commedia del Arte vorkam, abgewandelt. Diese deshalb auch als "Harlekinaden" bezeichneten Verwandlungsbücher gab es zwischen 1770 und 1772 in 15 Ausgaben als Schwarz/Weiß-Drucke oder handkoloriert, die später als Neuauflagen auch in Amerika erschienen.


Religiöse Faltblätter

Solche Transformationsheftchen  wurden Anfang des 19.Jahrhunderts auch als religiöse Erbauungsbüchlein zuerst in England und dann weltweit verbreitet. Ein Beispiel ist die Abhandlung  „Pilgrim’s Progress, from the World to that which is to come“ (Pilgerreise zur seligen Ewigkeit) des englischen Baptistenpredigers John Bunyan (1628 – 1688), dessen Langfassung er 1675 im Gefängnis von Bedfortshire geschrieben hatte und das heute mit Übersetzzungen in über 200 Sprachen zur Weltliteratur zählt. 

Von ähnlicher Einfachheit waren die oft kostenlos weiter gegebenen Faltblätter mit religiösen Inhalten, die beim Entfalten immer wieder neue überraschende Szenen  zeigten. Sie begannen häufig mit Darstellungen des Paradieses , zeigten dann den Sündenfall, riefen auf zur Abkehr vom verschwenderischen Leben und endeten mit den Insignien des Todes  (Momento Mori - Gedenke deiner Sterblichkeit).


 Erste Zug- und Bewegungselemente

Die technische Entwicklung Anfang des 19. Jahrhunderts sowohl bei der Drucktechnik durch Maschinen, die größere Auflagen ermöglichten, als auch bei den Druckverfahren z.B. der Lithographie (ab 1798) und die Verbesserungen bei der Papierherstellung sowie die wachsende Prosperität der Bevölkerung brachten einen enormen Zuwachs an Druckerzeugnissen aller Art. Dazu kam, dass in der Biedermeierzeit sich eine Rückbesinnung auf die Familie und das häusliche Geschehen vollzog, bei dem die Kinder stärker in den Focus gerieten. Neben Fibeln, Rechenbüchern und naturwissenschaftlichen Lehrmitteln statt moralisch-religiösen Traktaten wurden jetzt auch Spielzeug wie Anziehpuppen aus Pappe, Puzzel undAusschneidebögen für die Kinder aus besserem Haus hergestellt.Auch die ab 1810 in Wien  sehr populären und z.T. sehr aufwendig gestalteten Freundschafts- und Valentinskarten mit ersten Zug- und Bewegungselementen können als Vorläufer der kinetischen Bücher angesehen werden.

In London brachten 1810 der Verlag S. and J. Fuller 1810 ein erstes sogenanntes "Paper Doll Book" heraus, das großen Anklang fand und in mehreren Ausgaben erschien. "The History of Little Fanny" enthielt lose Papierfiguren und  erzählte in Reimen die emanzipatorische Geschichte eines Mädchems, das zunächst noch mit der Puppe spielt, nichts mit Büchern zu tun haben will, sondern eher Vergnügen und Spaß sucht. Gegen den Willen ihrer Mutter 

In diese Kategorie gehören Bücher wie „Isabellas Verwandlung oder das Mädchen mit den sechs Gestalten“, das 1815 in Wien erschienen ist und sich noch an Erwachsene richtete. Zu dem sechsfach neugewandeten Anziehpüppchen, das dem Buch beilag, gab es je eine entsprechende Geschichte. Ähnlich mit Einstecklaschen und kleinen Klappen funktionierten die „Toilet-Books“, die ab 1820 in London produziert wurden und bei denen die Toilet (Kleidung) gewechselt wurde Foto 21+22. Ganze Figuren und auch Möbel aus leichter Pappe wurden dagegen in den Einsteckbilderbüchern bewegt, wie es z.B. in der „Familienszenen im Zimmer samt Küche und Stall“ (1824, F. Müller, Wien) möglich ist Foto 23. Viele dieser Bücher enthielten von den Seiten getrennte Einzelteile, die wohl zum Spielen animierten, aber auch schnell verloren gingen.

Erstes dreidimensionales Bilderbuch 1836

Das erste echte bewegliche Spielbilderbuch für Kinder im deutschsprachigen Raum wurde von den aus Hannover stammenden Wiener Verleger Heinrich Friedrich Müller (1779 – 1848) im Jahr 1835 herausgebracht. „Die beweglichen Bilder“ ist ein Buch mit Ziehstreifen, bei dem ein Bildteil nach oben weggezogen wird und so den Blick auf eine erweiterte Szene z.B. den Ballsaal im Inneren des Hauses freigibt Foto 24 - 25. Im folgenden Jahr, 1836, erscheint bei demselben Verleger das erste dreidimensional aufstellbare Bilderbuch Foto 26. Die „Bunte Szenerien aus dem Menschenleben“ zeigt sechs Kulissenbilder, die aus drei ausgestanzten Bildszenen bestehen und mit einem Bändchen verbunden sind. Die ganze Kulisse wird mit einem Fädchen an der Rückseite aufgerichtet. Dargestellt ist u. a. eine bunte Marktszene mit Harlekin, Schaukelpferd und einem Bären-Dompteur auf der Bühne. Die dazugehörigen Geschichten von Leopold Chimani werden ausdrücklich „zum Nutzen und zur Erheiterung der Jugend“ erzählt. Nach dieser Veröffentlichung stellte der Verlag Müller in Wien aus unbekannten Gründen seine Produktion von Büchern und Spielzeug ein und wurde als Musikalienhandlung fortgeführt. (Informationen durch die Kinderbuch-Sammlerin Inge Hase)

In England wurde die Entwicklung der dreidimensionalen Bücher von den Verlegern Dean & Son (Thomas und Georg) ab 1850 aufgegriffen. Es waren Abenteuer- (Robinson Crusoe) und Märchenbücher (Rotkäppchen, Cinderella und Aladin). Sie enthielten ausgestanzte handkolorierte Schwarz-Weiß-Lithographien, die sich ebenfalls durch ein Bändchen auf der Rückseite zu einer Art Bühne hochziehen ließen. Sie nannten sich „Deans New Scenic Books“Foto 28, sozusagen Vorläufer des Heimkinos oder Fernsehens, deren damalige Vorstellungen im Familien- und Bekanntenkreis ein echtes Ereignis waren. Es erschienen bis 1900 etwa 60 mechanische Bücher in dem Verlag. Darunter befanden sich auch Bücher mit wechselnden Bildern, den sogenannten „Dissolving Pictures“. Foto 29-31. Dabei wurden zwei Scheiben mit Bildern übereinandergelegt, die zur Mitte hin eingeschnitten sind und sich beim Drehen mit einem überstehenden Bändchen über einander schoben und schließlich neu bedeckten. Die in großen Künstler-Studios angefertigten Bücher wurden in mehren Sprachen in Auflagen von 2000- 6000 hergestellt.

In Deutschland brachte der Stuttgarter Verleger W. Nitschke 1863 das erste Ziehbuch mit Mehrfachbewegungen heraus. In dem Buch „Kinderlust in lebendigen Bildern“ von C.F.Hösch werden über einen einzigen Ziehstreifen pro Bild bis zu fünf Bewegungen in unterschiedliche Richtungen ausgelöst (Die Theater-Musik).

Feinsinnige Elemente durch Lothar Meggendorfer

Spaß und Humor und einen fast unbegrenzten Einfallsreichtum brachte der Münchner Illustrator Lothar Meggendorfer (1847 – 1925) in die Produktion von mechanischen Bücher ein. Er war Zeichner bei den „Fliegenden Blättern“, den „Münchner Bilderbogen“ und gründete später selbst die „Meggendorfer Blätter“. Sein erstes bewegliches Bilderbuch „Lebende Bilder“ gestaltete er als Weihnachtsgeschenk für seinen ältesten Sohn Adolph. Es wurde 1879 beim Verlag Braun und Schneider, München, verlegt. Meggendorfers Ziehbilderbücher wie „Zum Zeitvertreib“(1885) Foto 33- 35, bei denen bis zu fünf Bewegungen in gegensätzlichen Richtungen über kleine Kupferspiralen vollzogen wurden, fanden und finden heute als Reprints noch starke Beachtung („Lustiges Automaten-Theater“, „Affentheater“, „Reiseabenteuer des Malers Daumelang und seines Dieners Damian“). Der Altmeister konstruierte berühmte und nach 100 Jahren wieder nachgedruckte zusammenlegbare Kulissenbüchern („Internationale Zirkus“, „Das Puppenhaus“, „Im Stadtpark“) Foto 36 – 40 Verwandlungsbücher, bei denen sich durch überlagernde Lamellen die Bilder verschoben(„Bubenstreiche“, „Nur für brave Kinder“)Foto 41 - 45, Leporellos („Vor dem Thore“)Foto 46 und Kombinations-Bücher („Die lustige Tante“, „Der fidele Onkel“) Foto 47 - 49. Insgesamt wurden allein 32 Ziuehbilderbücher mit 235 Bildtafeln in Auflagenhöhen bis 10.000 und in verschiedenen Sprachen veröffentlicht.

Chromolithographien aus Deutschland

Zwei weitere Deutsche, die in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts mit ihren Familien nach England auswanderten, machten sich mit der Produktion von beweglichen Büchern einen Namen:
Der bei Breslau geborene Tischler Raphael Tuch, später Tuck (1821 – 1900) wanderte 1865 mit seiner Frau und seinen vier Söhnen und drei Töchtern nach England aus, wo er später den Verlag Raphael Tuck & Sons (Hermann, Adolph und Gustav) gründete. Sie verkauften zunächst Bilder und Rahmen von einem Handwagen aus. Die in Deutschland erfundene farbige Lithographie (1798), die preiswert und technisch qualifiziert in Bayern und Sachsen produziert wurde, und der Geschäftssinn der ganzen Familie Tuck ließen das Geschäft blühen. Sie errichteten bald Dependancen in Paris, New York, Toronto und Berlin. Ab 1871 wurden Grußkarten z. B .zu Weihnachten mit großem Erfolg verkauft, dazu kamen Bilderpostkarten (ab 1894), so genannte Olietten, Glanzbilder, Sammelkarten und Anziehpuppen aus Pappe. Außerdem wurden auch etwa 500 illustrierte Bücher sowohl für Erwachsene als auch für Kinder verlegt. Rnd 100 Bücher enthielten bewegliche Teile z.B. Steckfiguren oder oder ließen sich per Hand aufrichten. Obwohl sie als „unrentable Linien“ galten wurden rund 30 Panorama- bzw. Diorama-Bücher gedruckt. Schon Ende des 19. Jahrhunderts warben die Tucks für sich mit der Bezeichnung als Königlicher Hoflieferant. Der Sohn des Firmengründers wurde 1910 für seine Verdienste geadelt: Sir Adolph Tuck.

Szenische Panoramas

Eine ähnlich Berühmtheit auf Grund seiner hochqualifizierten lithographischen Arbeiten erzielte der zweite ausgewanderte Deutsche: Ern(e)st Nister (1842 – 1909). Der Pastorensohn aus Oberklingen bei Nürnberg übernahm nach jahrelangen Studienreisen durch ganz Europa und Amerika 1877 in Nürnberg eine kleine chromolithographische Druckerei, die er zu einer der „bedeutendsten graphischen Anstalten des Kontinents“ und einem „Welthaus ersten Ranges“ (Verwaltungsbericht der Stadt Nürnberg, 1909) ausbaute.1888 errichtete er in London eine Niederlassung in der deutsch- und englischsprachige Bücher erschienen. Seine ab 1890 herausgebrachten „Panorama-Pictures“ enthielten bis zu vierschichtige Szenen, die auf kleinen Papierstützen stehend sich beim Umblättern der Seiten selbstständig erhoben. Sie zeigten häufig Spielsituationen von braven, sauber gekleideten Mittelschichtkindern, die oft mit Tieren spielten. Nister, der selbst künstlerische Ambitionen hatte, seinen Namen aber auch unter die Werke anderer setzte, prägte mit seinen Veröffentlichungen den heute als rührselig empfundenen „viktorianischen Stil“. Er entwickelte in seinen Betrieben verschiedene Techniken des Spielbuches z.B. sich überlappende Drehbilder („Revolving Pictures“) oder auch Klappen- und Jalousie-Bilder.

Selbsterrichtende Figuren

In der Zeit um den Ersten Weltkrieg und danach kam die Produktion von dreidimensionalen Büchern fast ganz zum Erliegen. Ursache waren die Verteuerung der Handwerksarbeit, Beschränkung auch des Rohstoffes Papier, Umstellung der Druckmethoden und die allgemeine wirtschaftliche Rezession. Erst um 1930 griff der britische Journalist S. Louis Giraud (1879 – 1950) diese Produktionsidee wieder auf, um junge Leser an die Zeitung „Daily Express“ heranzuführen. Zusammen mit dem Erfinder optischer Unterhaltungsgeräten, Theodore Brown, entwickelten sie dreidimensionale Papierskulpturen, die sich beim 180-Grad-Aufschlagen eines Buches von selbst errichteten – die ersten Pop-ups. Für das aus einem Kasten gebildete Haus sicherte sich Giraud die britischen Patentrechte. Bestückt mit diesen frei stehenden Kunstwerken wurden ab 1929 fünf umfangreiche Jahresbände („Daily Express Childrens Annual“ ) herausgebracht, die in Buch- und Penny-Läden stark beworben wurden. 1934 machte sich Giraud selbständig und entwickelte die „Bookano“-Buchreihe (Kontraktion aus „book“ und „mechanico“). Es erschienen 17 dickseitige Bände, die neben Bildern, Geschichten, Reimen und Sachinformationen 4 - 6 Pop-ups enthielten. Insgesamt wurden über 150 Papierszenen, einschließlich der in „The Story of Jesus“ (1938) von Giraud produziert und in England gefaltet und eingeklebt.

Patent für „Pop-up“

Auch in den USA erlebten die dreidimensionalen Bücher Anfang der 30er Jahre eine neue Blütezeit. Der aus Ohio stammende Künstler Harold B. Lentz zeichnete und entwickelte für den 1930 gegründeten New Yorker Blue Ribbon Verlag Pop-up-Bücher, die sich an der Technik der Bookano-Bücher Girauds ohne Rücksicht auf dessen Rechte orientierten. Er prägte auch den Begriff „Pop-up“ und ließ ihn über den Verlag als Markennamen sichern. Ab 1932 wurden in Amerika zehn populäre Bücher wie „Jack the Giantkiller“, „Pinocchio“ und „Cinderella“ mit offensivem Werbeaufwand wie Plakaten und Aufstellern vertrieben. Im folgenden Jahr wurden vier Micky-Mouse-Bände herausgebracht, die in den Disney-Studios gezeichnet wurden. 1935 hatten die Bücher von Blue Ribbon eine Gesamtauflage von 350.000 Stück. Wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten wurde die Produktion aber noch im selben Jahr eingestellt.

Zwei Künstler mit deutschen Wurzeln machten sich in USA mit beweglichen Büchern einen Namen: Julian Wehr (1888 -1970), der als August Wehrfritz in Brooklyn, New York, als Sohn deutscher Einwanderer geboren wurde, änderte seinen Namen auf Grund antideutscher Ressentiments während des 1. Weltkriegs. Er hatte als Bildhauer und Holzschnitzer mit drei Kindern und wechselnden Wohnsitzen kein leichtes Leben. So brannte sein Studio mit sämtlichen Skulpturen kurz vor einer Ausstellungseröffnung nieder. Von 1942 bis 1950 stellte Julian Wehr rund 40 zart gemalte Ziehbücher im Stil Lothar Meggendorfers her, die Märchen und andere volkstümliche Geschichten illustrierten.

Rechtwinklige Stehauf-Bilderbücher

In Deutschland entwickelte der Verlag F. J. Schreiber, Eßlingen, Ende der 1930er Jahren eine neue Technik, die er „Stehauf-Bilderbücher“ nannte. Bei diesen Kulissenbildern werden Linien in das flache Bild hineingeschnitten und durch entsprechende Gegenfaltungen eine gestufte, rechtwinklige Szene gebildet, die sich wieder flach zusammenlegen ließ. Die Papierbilder, die sich mit Themen aus Märchen und Alltag („Frohe Fahrt!“, “Hallo - mein Auto!“, “Im Zoo“) befassten und unterhalb einen Begleittext hatten, wurden entsprechend auf Pappen aufgezogen. Zwischen 1937 und 1953 erschienen mindestens 32 Titel, wenn man die anderen europäischen Ausgaben außer Acht lässt. Da diese 90°-Kulissenbilder, deren Erfinder bisher unbekannt ist, ohne viel Handarbeit schnell und preiswert durchgeführt werden kann, hat sich diese Produktionsmethode bei einfachen Kinderbüchern bis heute erhalten.

In Amerika übernahm (vermutlich) die Falttechnik in abgewandelter Form Geraldine Clyne (1899 – 1970) mit ihrem Mann Benjamin Klein, die die sehr feingliedrigen Bilder in vierfacher Vergrößerung entwarfen. Sie malte und inszenierte Bilder des unbeschwerten idealisierten Lebens in USA, für die ihre Tochter Judy Modell stand. Auf Anraten ihres Manager hatte sie sich das Pseudonym für Goldie Klein zugelegt, da mit einem deutschen Namen während und nach dem 2. Weltkrieg schlecht Werbung für ihre Bücher gemacht werden konnte. Ihr Mann, Benjamin Klein, mit dem sie zusammen zehn Stehauf-Bücher („Jolly-Jumps-Up“) von 1939 bis 1954 entwarf, passte nur seinen ehemaligen Vornamen, Beyla, an. Inhalte und Technik der Bücher entsprachen den Stehauf-Bilderbüchern, die der Verlag F.J.Schreiber, Esslingen, von 1937 bis 1953 im Querformat herausgebrachte. Unterhalb des Bildes wurden die Märchen und Alltagssituationen („Frohe Fahrt“, „Hallo, mein Auto“, „Im Zoo“) erzählt. Bei diesen Kulissenbildern werden Linien in das flache Bild hinein geschnitten und durch Falten eine gestufte rechtwinklige Szene gebildet. Da dies ohne Kleber schnell und preiswert durchgeführt werden kann, hat sich diese Produktionsmethode für einfache Kinderbücher bis heute erhalten.

Ausgeklügelte Falttechnik

Nach dem zweiten Weltkrieg erhielt die Pop-up-Buchproduktion in Europa durch den tschechischen Artia-Verlag neuen Aufschwung: Der in Wien geborene tschechische Künstler Vojtech Kubasta (1914-1992) brachte mit seinen freundlich warmen und farbintensiven Bildern und der ausgeklügelten Falttechnik diese Buchkunst zu einem neuen Höhepunkt. Nach seinem Architekturstudium in Prag arbeitete er als Raum- und Formgestalter und als Buchillustrator. Für den aufkommenden Tourismus nach dem Krieg und verschiedene Markenprodukte u. a. Bier und Porzellan gestaltete er die ersten dreidimensionalen Werbeprospekte, um diese, wie er sagte, „etwas lebendiger“ zu machen. So entwarf er einige aufklappbare 3-D-Postkarten zu historischen Prager Monumenten.

1956 bot er dem staatlichen tschechischen Artia-Verlag sein erstes Kulissen-Märchenbuch an. Es sollte der Grundstein zu einem weltweiten Erfolg seiner plastischen Gestaltung der Märchen von Grimm und Andersen werden. Daneben entwickelte Kubasta für verschiedene Altersgruppen kleine Serien wie die „weiße Serie“ für die Kleinsten, die acht Abenteuerbücher mit Tip,Top und Tap oder die „Panascopic“-Serie mit ihren spektakulären hochragenden Silhouetten, die heute begehrte Sammlerobjekte sind. In vielen Büchern, wie den Weihnachtskrippen, tauchen Motive der Prager Altstadt auf. Heute schätzt man, dass die rund 70 dreidimensionalen Bücher Kubastas eine weltweite Auflage von 30 Millionen in 37 Sprachen haben.

Hochkomplexe Papierskulpturen

Der weltweite Erfolg der Aufstellbücher Kubastas veranlasste den amerikanischen Verleger Waldo Hunt ab Mitte der 60er Jahre auch in den USA die Pop-up-Bücher zu produzieren. Er führte junge internationale Künstler wie den Polen Jan Pienkowski, den Holländer Ron van der Meer, den Dänen Ib Pernick, die Amerikaner David Pelham, Keith Mosley, Chuck Murphy, John Strejan und andere zusammen, die über 40 Jugendbücher für die Verlage Random House, Hallmark Cards und Intervisual Communications entwarfen. Sie kreierten auch die Berufsbezeichnung Papieringenieur („paperengineer“).

Viele gingen später eigene Wege und machten z. T. ihre eigenen Studios auf wie Ron van der Meer, der von London aus seine erfolgreiche Serie der „Packs“ startete. Das sind Aktivitäten-Bände mit zahlreichen Pop-ups, Klappen, Zusatzteilen wie Steckteilen und Kassetten und einem informativen Text. Die Bücher, die sich an Erwachsene richten, behandeln Sachthemen wie Architektur, Musik, Mathematik, Intelligenz oder Parapsychologie. Allein das Kunst-Paket („Art-Pack)“, das aus über 600 Einzelteilen zusammengesetzt wurde, hatte eine Auflage von über 100 000 Stück.

In Amerika hält die Begeisterung für Pop-up-Bücher noch an. Es sollen etwa 200 neue Bücher jährlich herauskommen. Papieringenieure wie David A. Carter, David Hawcock, Nick Denchfield, Roger Smith, Keith Finch, die Niederländer Carla Dijs und Kees Moebeck, und der Bulgare Anton Radewsky haben einen Namen über die Grenzen hinaus. Die einzige bekannte deutsche Papieringenieurin ist Antje von Stemm, die neben englischen Grusel-Pop-up-Büchern, zwei Bücher für Jugendliche zum Selbstbasteln entworfen hat. Für das Buch „Fräulein Pop und Mrs. Up“ erhielt sie 2000 den Deutschen Jugendliteraturpreis.

Hochkomplexe Papierskulturen in Buchform wurden in den letzten Jahren in einem New Yorker Studio entworfen. Initiator ist Robert Sabuda, der schon dreimal den „Meggendorfer Prize“ erhalten hat. Der Preis wird alle zwei Jahre von der Movable Book Society – einem Zusammenschluss von Papieringenieuren, Verlegern und Sammlern von mechanischen Büchern – verliehen. Robert Sabuda arbeitet mit seinem Partner Metthew Reihart zusammen.